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«Ich weigere mich, ohnmächtig zu werden»
«Ich weigere mich, ohnmächtig zu werden»

«Ich weigere mich, ohnmächtig zu werden»

Barbara Schlunegger (27) ist nach dem Theologiestudium in Bern nicht Pfarrerin geworden, sondern Koordinatorin Öffentlichkeitsarbeit beim christlichen Hilfswerk TearFund. Sie ist überzeugt: Nicht die Moralkeule motiviert Menschen, sich zu engagieren, sondern persönliche Erfahrungen und Begegnungen.

Barbara Schlunegger ist Koordinatorin Öffentlichkeitsarbeit beim christlichen Hilfswerk TearFund.

Barbara, du arbeitest beim internationalen Hilfswerk TearFund und leitest unter anderem die Jugendaktion «Nacht ohne Dach». Ist dieses Programm so ungemütlich, wie es klingt?

Es ist auf jeden Fall ein Erlebnis. Jugend- und Konfgruppen, die sich dafür anmelden, verbringen eine Nacht in einer selbstgebastelten Kartonhütte. Sie erhalten bei der Aktion einen Eindruck vom Leben benachteiligter Jugendlicher im globalen Süden, den sie nicht so schnell wieder vergessen.

Noch prägender sind für viele junge Menschen Begegnungsreisen oder Einsätze in betroffenen Ländern. Braucht es interkulturelle Erfahrungen, um Menschen für Armut und Gerechtigkeit zu sensibilisieren?

Sie können durch nichts ersetzt werden. Selbst wenn ich zehn Bücher lese, lerne ich nicht so viel wie durch eine persönliche Erfahrung am eigenen Leib.

Selbst wenn ich zehn Bücher lese, lerne ich nicht so viel wie durch eine persönliche Erfahrung am eigenen Leib.

Barbara Schlunegger

Die Welt ist kompliziert geworden. Soll eine 18-jährige Maturandin für ein halbes Jahr nach Afrika fliegen, bei einem Projekt mithelfen und eine interkulturelle Erfahrung machen – oder soll sie dem Klima zuliebe auf den Flug verzichten?

Ich mache den Leuten Mut: Wenn ihr jung seid, dann geht! Schlimm finde ich den sogenannten Missionstourismus: Wenn eine Gruppe etwa für zehn Tage nach Sambia reist, ein Kinderheim aufmischt und wieder verschwindet. Oder die Kombi-Reisen: Wir haben drei Tage Spass und dann tun wir noch etwas Gutes für unser Gewissen. Anders als bei sorgfältig geplanten und begleiteten Projektbesuchen, bei denen echte Begegnungen auf Augenhöhe möglich sind. Diese wirken auf beiden Seiten lange nach.

Hilfswerke wie TearFund stehen im Verdacht, «Pflästerlipolitik» zu betreiben in Ländern mit dysfunktionalen, korrupten Systemen. Ist da etwas dran?

Manche fürchten, dass Entwicklungszusammenarbeit echte Veränderungen im System verhindert. Andere sind überzeugt, dass die Armutsfalle real ist: Armut und Unterentwicklung führen zu mehr Armut und Unterentwicklung. Wenn wir einem Menschen ermöglichen, sich weiterzubilden und sich ausreichend zu ernähren, dann wird diese Person die Ressourcen haben, das eigene Leben und auch das der lokalen Gesellschaft zu verändern. So besteht die Chance, dass kranke Systeme mit der Zeit von innen her gesunden.

Barbara Schlunegger

Wie gewährleistet ihr die Nachhaltigkeit eurer Projekte?

Wir arbeiten mit lokalen Partnerorganisationen zusammen. Die Ideen kommen von ihnen und die Umsetzung liegt bei ihnen. Wir haben keine eigenen Mitarbeitenden vor Ort, die etwas aufbauen und dann wieder gehen. Stattdessen fördern, schulen und begleiten wir lokale Mitarbeitende.

Was macht TearFund zu einem „christlichen Hilfswerk“?

Unser Antrieb, die Liebe Jesu weiterzugeben, und unsere Zusammenarbeit mit Kirchen. Manchen ist das zu wenig. Wir evangelisieren nicht und verteilen keine Bibeln. Aber Ideologie und asymmetrische Beziehungen in einem vulnerablen Umfeld vertragen sich schlecht. Das lehrt uns die Kirchengeschichte.

Wenn wir meinen, wir müssten uns für jedes Problem auf der Welt interessieren und uns um alles kümmern, lähmt uns das und verursacht nichts als Schuldgefühle.

Barbara Schlunegger

Hätte dich dann ein Studium der Wirtschaft nicht besser auf deine Arbeit bei TearFund vorbereitet als das Theologiestudium? Was bringst du als Theologin mit?

Kirchgemeinden schätzen es, wenn ich ihnen nicht einfach die Organisation vorstelle und mit der Spendenkasse rassle, sondern eine Predigt halte. Gerade angesichts der genannten Problemstellungen braucht es zudem einen ganzheitlichen Blick und die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren: Was motiviert uns? Von welchem Menschenbild gehen wir aus? Diese Perspektive kann ich bei TearFund dank meinem Studium einbringen.

In der Bibel wird Jesus mit der Frage konfrontiert: Wer ist eigentlich mein Nächster? Was würdest du heute antworten: Für wen bin ich verantwortlich?

Ich wähle meine Nische in dieser Welt und übernehme dort Verantwortung. Anders geht es nicht. Persönlich habe ich einen Dauerauftrag eingerichtet für eines unserer Projekte, daneben unterstütze ich eine befreundete Familie in Kuba. Auch entscheide ich mich laufend, wem oder was ich meine Zeit widme. Das genügt! Wenn wir meinen, wir müssten uns für jedes Problem auf der Welt interessieren und uns um alles kümmern, lähmt uns das und verursacht nichts als Schuldgefühle. Wenn wir diesem Druck widerstehen, wenn wir uns weigern, ohnmächtig zu werden angesichts des Leides dieser Welt, dann setzt uns das frei, gezielt zu handeln.

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TearFund ist eine christliche Entwicklungs- und Nothilfeorganisation. Zusammen mit lokalen Partnerorganisationen in Ländern des Südens fördert und stärkt TearFund benachteiligte Menschen durch Bildung, Basisgesundheit und Einkommensförderung – unabhängig von deren ethnischen Zugehörigkeit, Kultur oder Religion. In der internationalen Projektarbeit fördert TearFund eine nachhaltige und ökologisch verträgliche Entwicklung.

www.tearfund.ch

Fotos: Paul Mai